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Auf der Suche nach dem verlorenen Kurs. Eine stilisierte Darstellung der argentinischen Wirtschaftsgeschichte


Nueva Sociedad Januar 2010

Zusammenfassung | Die argentinische Wirtschaft lässt sich nur schwer einordnen: Es handelt sich um den rätselhaften Fall eines Landes mit großem Potenzial, das jedoch im Vergleich zu anderen Ländern systematisch (und großenteils selbstverschuldet) zum Niedergang verurteilt ist. Vor dem Hintergrund dieser perplexen Situation untersucht der Artikel die Evolution der argentinischen Wirtschaft seit ihren Anfängen bis zur heutigen Zeit. Die Autoren versuchen, die entscheidenden Ursachen für ihre ständigen Schwankungen, ihre enttäuschende Entwicklung im letzten halben Jahrhundert sowie die Faktoren zu entschlüsseln, die trotz der guten Ergebnisse der letzten Jahre die aktuelle Lage überschatten.

Auf der Suche nach dem verlorenen Kurs. Eine stilisierte Darstellung der argentinischen Wirtschaftsgeschichte

Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will,für den ist kein Wind günstigSeneca

Einführung

Schon in den 60er Jahren wies Paul Samuelson darauf hin, dass es in der Weltwirtschaft vier unterschiedliche Arten von Ländern gebe: die Industrieländer, die Entwicklungsländer, Japan und... Argentinien. Obwohl es sich um eine bewusste Vereinfachung handelt, steckt in dieser tragischen Ironie ein Quäntchen Wahrheit. Mit seiner spitzen Bemerkung wollte Samuelson auf die Schwierigkeit hinweisen, den Fall Argentinien einzuordnen – eine Ansicht, die viele in- und ausländische Beobachter teilten und auch heute noch teilen: der rätselhafte Fall eines Landes mit einem großen Potenzial, das systematisch (und großenteils selbstverschuldet) zum relativen Niedergang verurteilt ist.

Während eine Reihe Entwicklungsländer (in Asien, aber auch in Lateinamerika) den Weg der Konvergenz einschlugen und die Bresche zu den führenden Ländern verkleinerten, schien die argentinische Wirtschaft ein klares Gegenbeispiel zu dieser Tendenz zu sein. Zur schwachen Dynamik der langfristigen Wirtschaftsleistung und den starken Schwankungen in den makroökonomischen Variablen kamen häufige Krisen hinzu.

War es daher nicht doch korrekt, eine Wirtschaft, die von einem mit den führenden Industrienationen vergleichbaren Pro-Kopf-Einkommen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu der Zeit, als Samuelson seine Bemerkung machte, relativ stark zurückfiel, einen »Sonderfall« zu nennen? Dieser Niedergang erfolgte nicht nur im Verhältnis zu den führenden Volkswirtschaften, sondern auch im Vergleich zu vielen Nachbarländern und anderen aufstrebenden Nationen mit ähnlicher Faktorausstattung, wie Kanada, Neuseeland und Australien.

Was soll man angesichts der Unfähigkeit, nachhaltig zu wachsen, der extremen Schwankungen in den makroökonomischen Variablen, sowohl nominal als auch real, und der zunehmenden sozialen Ungleichheit nun von den letzten drei Jahrzehnten halten? Die argentinische Wirtschaft hat zwar schon vor 1960 eine bemerkenswert schwache relative Dynamik gezeigt; ab Mitte dieses Jahrzehnts verlief ihre Entwicklung jedoch schlechthin frustrierend und entmutigend. Die Wirtschaft brachte in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 4,5% zustande und wuchs in den folgenden vier Jahrzehnten im Durchschnitt immerhin noch 3,3% pro Jahr. Im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts erlitt sie jedoch einen jähen Einbruch mit einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von nur 1,3%. Da das Wachstum zu dieser Zeit gerade noch mit dem Bevölkerungswachstum einherging, blieb das Pro-Kopf-Einkommen praktisch eingefroren.

Diese klägliche Leistung wurde zudem von einer markanten Verstärkung der makroökonomischen Instabilität begleitet. Seit den 60er Jahren führten die wiederholten Versuche zur Stabilisierung der Wirtschaft zu häufigen Änderungen der Politik. Dadurch verstärkte sich dramatisch die Volatilität des Umfelds, in dem die Wirtschaftsakteure handeln mussten. Eine bemerkenswerte Eigenart der Funktionsweise der Wirtschaft war, dass das zur Stagnation tendierende Pro-Kopf-Einkommen tatsächlich das Ergebnis einer Folge von extremen Zyklen war. Diese Zyklen waren gekennzeichnet durch kräftige Aufschwungsphasen, denen wirklich chaotischen Zeiten wirtschaftlicher »Desorganisation« folgten und ein ausgeprägter Rückgang oder gar Zusammenbruch der Produktion. Nicht ohne Grund bezeichnete man diesen längeren Zeitraum als »Periode der Katastrophen«.

Unser trauriger wirtschaftlicher Werdegang kann nicht nur dem Schicksal oder dem Unglück (den objektiven Bedingungen) zugeschrieben werden, sondern auch dem, was wir als Gesellschaft daraus gemacht haben (dem subjektiven Faktor). Die erratische und prozyklische Natur der Wirtschaftspolitik selbst wurde zu einem autonomen Faktor, der die schwache Performance der argentinischen Wirtschaft nährte. Vielleicht steckt hier – und in den wirtschaftspolitischen Ursachen, die hinter dem offensichtlichen Versagen im Umgang mit dem makroökonomischen Zyklus und seinen jähen Schwankungen bei jeder fehlgeschlagenen Richtungsänderung verborgen sind – einer der Gründe für unser ewiges Scheitern. Und nicht, wie wir und aus Selbstgefälligkeit Glauben machen wollten, in der Existenz widriger Umstände. An Ortega y Gasset anlehnend könnte man sagen: »Zweifelsohne sind es die Umstände... aber auch die Menschen«.

Insgesamt bestehen keine Zweifel daran, dass die wirtschaftliche Bilanz unserer ersten zwei Jahrhunderte als unabhängige Nation viel zu wünschen übrig lässt. Die häufigen Rückschläge in der Wirtschaftsleistung und die pendelartigen Richtungswechsel in der Politik sind kennzeichnend für unsere Geschichte und müssen erklärt werden. Dies ist eine Grundvoraussetzung für eine Lösung, und um eine den aktuellen Möglichkeiten und Herausforderungen des Landes entsprechende kohärente Strategie für die wirtschaftliche Entwicklung ausarbeiten zu können.Aus diesem Blickwinkel und auf der Suche nach den notwendigen Voraussetzungen zum Verstehen unserer enttäuschenden Wirtschaftsgeschichte stellt dieser Beitrag den Verlauf der argentinischen Wirtschaft stilisiert dar. Er geht nicht detailliert auf die Alternativen und Dilemmata der jeweiligen Etappen ein, sondern identifiziert die Themen, die immer wieder als Herausforderungen und Probleme ohne Lösung auftreten. Weiter unten, und im Einklang mit dem Hauptantrieb für diesen Beitrag, wird die Frage gestellt, wie der verlorene Kurs wiedergefunden werden kann und es werden die Kriterien untersucht, nach denen sich eine makroökonomische Strategie richten sollte, um einen nachhaltigen Wachstumsprozess zu fördern.

Argentinien bis zur großen Depression: die Kornkammer der Welt

Obwohl das Land vor genau zweihundert Jahren zur unabhängigen Nation wurde, begann seine Institutionalisierung erst 1853, als die Verfassung in Kraft trat. Der Konsolidierungsprozess war jedoch beschwerlich und langwierig. Ein bedeutender Schritt war 1880 die Unterstellung der Stadt Buenos Aires unter die Zentralregierung, zusammen mit der Übertragung verschiedener Kompetenzen von den Provinzen an die Nation. Auf wirtschaftlicher Ebene war dieser Prozess jedoch erst zu Beginn des folgenden Jahrhunderts abgeschlossen, als die Zentralregierung ihr Monopol zur Geldemission und zur Kontrolle über die öffentliche Verschuldung auf den Kapitalmärkten durchsetzen konnte.

Zusätzlich zu den institutionellen Fortschritten begannen die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts mit verheißungsvollen wirtschaftlichen Aussichten. Die Enteignung der Territorien der Urbevölkerung gegen Ende der 1870er Jahre im Rahmen des »Eroberung der Wüste« genannten Feldzugs machte die Ausweitung der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen möglich. Um jedoch die Ausfuhren (hauptsächlich Schurwolle) steigern und diversifizieren zu können, fehlte es damals in Argentinien an genügend Arbeitskräften und Kapital.

Das ab 1880 verfolgte Entwicklungsprojekt berücksichtigte diese Mängel. Zu ihrer Behebung griff Argentinien auf die übrige Welt zurück und zog europäische Einwanderer und ausländisches Kapital zur Finanzierung der erforderlichen Infrastruktur an1, wie des Baus von Eisenbahnen und Häfen, während die Investitionen in die Landwirtschaft die Nutzung der fruchtbaren Pampa ermöglichten.

In einer Zeit als die Welt ihre erste große Welle wirtschaftlicher Globalisierung erlebte, stützten die erfolgreichsten Staaten (insbesondere Kanada, Australien und Argentinien) ihre Entwicklung auf die Nutzung aller ihrer komparativen Vorteile.

In mehr als einem Sinn könnte der Zeitraum zwischen 1890 und 1914 als »goldene Ära« der Integration der argentinischen Wirtschaft in die weltweiten Märkte bezeichnet werden. Das beeindruckende Wachstum in der Getreideproduktion Mitte der 1890er Jahre erlaubte die Diversifizierung der Ausfuhren und machte das Land zur »Kornkammer der Welt«. Obwohl große Ungleichheit in der Verteilung des Landbesitzes und der daraus erwirtschafteten Einkommen herrschte, verbesserte sich der Lebensstandard der Bevölkerung etwas. In den dreieinhalb Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs stieg daher Argentinien zu einem der wirtschaftlich leistungsfähigsten Länder auf und erwirtschaftete 1913 ein BIP pro Kopf, das beinahe 75% des BIP der USA ausmachte.

Das Modell als Agrarexportland konnte sich jedoch nicht ewig halten. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem gesunkenen Angebot an verfügbaren Fertigerzeugnissen aus Europa und den Vereinigten Staaten begann dieses auf »statische« komparative Vorteile gründende Entwicklungsmodell seine ersten Schwächen zu zeigen. Gleichzeitig begann als Folge der vom Krieg gebotenen natürlichen Protektion ein Prozess der Industrialisierung, um die zuvor eingeführten Produkte nun im eigenen Land herstellen zu können. Diese »spontane« Industrialisierung erreichte ihre Grenzen, als der kriegerische Konflikt endete. Andererseits rückte eben diese Expansion der Fertigungs- und Dienstleistungsaktivitäten vor dem Hintergrund der wachsenden Stadtbevölkerung zunehmend das soziale Problem in das Zentrum der Debatte, auch wenn es in der politischen Agenda des neuen Jahrhunderts wiederholt beiseite geschoben wurde.Während der 20er Jahre erlebte Argentinien erneut ein Wirtschaftswachstum, das nun mit einer beginnenden Diversifizierung der Produktion kombiniert war, die aus der Schaffung von Anreizen für bestimmte auf den Binnenmarkt gerichtete Aktivitäten hervorging. Zudem führte das Wachstumsmodell durch die Verbesserung der Löhne und die Erhöhung der Staatsausgaben während der Präsidentschaften der Unión Cívica Radical (1916-1930) zu einer etwas besseren Einkommensverteilung als in der Etappe zuvor. Auf internationaler Ebene waren die 20er Jahre grundsätzlich eine Übergangszeit, die von den Anstrengungen der europäischen Staaten zum Wiedererlangen der Währungsparität der Vorkriegszeit geprägt war. Diese Hoffnungen zerfielen jedoch am »Schwarzen Montag« 1929 mit dem Beginn der großen Depression. Die wirtschaftliche Ordnung, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg geherrscht hatte, gehörte endgültig der Vergangenheit an. Ihr Verschwinden versetzte dem argentinischen Agrarexportmodell den Gnadenstoß.

Als erste Reaktion versuchten die argentinischen Behörden mit einem bilateralen Abkommen (bekannt als Roco-Runciman), den Handel mit Großbritannien wieder aufzunehmen. Mit dem Ziel, das Ungleichgewicht in der Zahlungsbilanz zu verringern, wurden die Wechselkurskontrolle und eine Reihe von Einfuhrkontrollmaßnahmen eingeführt. Wie immer in der Geschichte des Landes wurde die Änderung der Zollpolitik eher aufgrund von konjunkturellen Bedürfnissen und weniger als bewusster Anreiz für die Entwicklung bestimmter Sektoren durchgesetzt. Die lokale Industrie fand jedoch unter dem Schutz dieser Politik neue Entwicklungschancen.

Auf politischer Ebene kam es zusammen mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zu einem Bruch in der demokratischen Ordnung. Der nach 1910 mit der Einführung der allgemeinen Wahlpflicht (Ley de Sufragio Universal) erlangte Fortschritt hatte zu einer Abfolge aus transparenten Wahlen hervorgegangener Regierungen geführt. Seit dem 1930 von José Félix Uriburu angeführten Militärputsch gegen den Präsidenten aus der radikalen Partei, Hipólito Yrigoyen, ist die Entmachtung von demokratisch gewählten Präsidenten jedoch leider ein halbes Jahrhundert lang zu einer traurigen Routine geworden.

Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg: importsubstituierende Industrialisierung und staatlicher Interventionismus

Die konstanten externen Ungleichgewichte der 30er Jahre führten zu einer zunehmenden Verhärtung der Wechselkurspolitik und zu Einschränkungen der Einfuhren. Das bedeutete eine zusätzliche Protektion für die inländische Herstellung von Fertigerzeugnissen. Zudem gab die natürliche Protektion des Zweiten Weltkriegs der inländischen Industrialisierung einen weiteren Impuls. Diesmal war die Reaktion der Regierung jedoch völlig anders als im Ersten Weltkrieg. Damals entstand die Substitution der Importe als Reaktion auf äußere Umstände. In dieser neuen Etappe wurde sie jedoch als Teil eines bewussten Projekts zur Veränderung der Produktionsstrukturen eingeführt und kam, um zu bleiben. Beim Militärputsch von 1943 befand sich das Land gerade am Anfang seines Industrialisierungsprozesses. Seit den 30er Jahren haben die einzelnen Regierungen und sogar das Militär die Notwendigkeit verstanden, die Industrialisierung zu stärken, um die Abhängigkeit vom Ausland zu verringern und die wirtschaftliche Autonomie zu fördern. Gleichzeitig zeichnete sich die Notwendigkeit ab, dem Staat in diesem Prozess eine aktive Rolle zukommen zu lassen. Der definitive Anstoß zur importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) kam jedoch erst ab 1946 mit der Präsidentschaft Juan Peróns. Das politische Projekt Peróns sah die staatlich geförderte Entstehung und Festigung eines nationalen industriellen Unternehmertums und eine bessere Lebensqualität der schnell wachsenden Arbeiterschicht vor, um sich die Unterstützung der Gewerkschaften für seine Regierung zu sichern. Der Fortschritt des Industrialisierungsprozesses in alle möglichen Richtungen war neben der Erlangung der wirtschaftlichen Autonomie für dieses Projekt daher ein grundlegendes Element.

Die während des Zweiten Weltkriegs bedeutsamen Auslandskredite, die ausgezeichneten Austauschverhältnisse der ersten Regierungsjahre Peróns und die Nutzung der während der »goldenen Ära« des Agrarexportlands errichteten Infrastruktur verliehen ihm einen breiten Handlungsspielraum, um sein politisches Projekt durchzusetzen und den Impuls zur Industrialisierung zu finanzieren. Der Staat nahm dabei eine zentrale Rolle ein. Die Umverteilungspolitik der aufstrebenden Phase des Peronismus gründete sich auf der Aneignung der Überschüsse aus der Landwirtschaft durch den Staat zur Finanzierung des Industrialisierungsprozesses. Mit dieser Politik konnten die inländischen Lebensmittelpreise gesenkt und dadurch die Reallöhne der Industriearbeiter verbessert werden. Auch wenn einerseits die von der Regierung durchgesetzten nominalen Lohnerhöhungen die Rentabilität der Unternehmen beeinträchtigten, wurde dies durch eine äußerst vorteilhafte Kreditpolitik und einen starken Protektionismus mehr als kompensiert.

Auf diese Weise verwandelte sich Argentinien in eine äußerst geschlossene und geschützte Volkswirtschaft mit großem staatlichem Einfluss und wenig Anreizen für Exportaktivitäten. Die auf den Binnenmarkt abzielende importsubstituierende Industrialisierung ermöglichte eine Allianz zwischen dem nationalen Unternehmertum und den Industriearbeitern. Der landwirtschaftliche Sektor, der in den Zeiten vor der großen Depression die treibende Kraft für das Wachstum war, wurde dadurch vernachlässigt. Diese staatlich geförderte Allianz war derart solide, dass sie den Sturz Peróns viele Jahre lang überleben sollte. Erst ab dem Ende der 50er Jahre während der Regierung von Arturo Frondizi versuchte man, die Grenzen der auf importsubstituierender Industrialisierung basierenden Politik zu überwinden und Argentinien wieder in die internationalen Märkte einzubinden. Mit dem Ziel, die »einfache« Etappe der Substitution des Konsumgüterimports sowie die äußere Abschottung zu überwinden, konzentrierte man sich auf die nationale Erdölproduktion und die Entwicklung der Metallurgie und der Industrien des Primärsektors. In einer durch stagnierende Exporte gekennzeichneten Volkswirtschaft war es für die »Vertiefung des Industrialisierungsprozesses« unerlässlich, Kapital aus dem Ausland anzuziehen. Daher wurde während der kurzen Regierungszeit von Frondizi der Zufluss von ausländischem Kapital gefördert; die durch die Zahlungsbilanz bedingten Restriktionen konnten vorübergehend gemildert und die nach Ende des Zweiten Weltkriegs eingeleitete Politik der Isolation für eine kurze Zeit überwunden werden. Trotz dieser Änderungen begann die Fortsetzung des Industrialisierungsprozesses dem Land hohe Kosten abzufordern. Diese Kosten drückten sich in extremen zyklischen Schwankungen, in Industrien, die die Minimalkapazitäten nicht optimal nutzen, einer schwachen Exportdynamik, wiederholten Zahlungsbilanzkrisen, einer hohen Inflation und einem mäßigen langfristigen Wirtschaftswachstum aus. Diese Periode war von einer verkrampften Dynamik gekennzeichnet, die in der Fachliteratur als Stop and Go bekannt wurde. Trotz der sich nach langer Stagnation in den 60er Jahren dank der »grünen Revolution« und der Expansion der Landwirtschaft erholenden Exporte und einem nachhaltig wachsenden BIP, machten sich die Einschränkungen der ISI-Politik immer stärker bemerkbar. Es wurde zunehmend schwieriger, die Allianz zwischen den Unternehmern und den Industriearbeitern, auf der das herrschende Wirtschaftsmodell beruhte, aufrechtzuerhalten. Dadurch spitzten sich auch die sozialen Konflikte allmählich zu. Gleichzeitig verschärften sich die finanziellen Ungleichgewichte und die Inflation stieg an. Bei Ausbruch der ersten internationalen Ölkrise stand das Land mit einer angeschlagenen Wirtschaft und einer geteilten Gesellschaft da.

Auch wenn man nicht sagen kann, dass die ISI-Strategie von vornherein zum Scheitern verurteilt war, verfestigte jedoch die Entscheidung, die Wirtschaft auf Dauer vor der ausländischen Konkurrenz zu schützen, eine Struktur mit deutlich exportfeindlichen Preisrelationen und einem vollständig abgeschotteten Binnenmarkt. Dadurch entstand eine perverse Dynamik. Die staatlichen Ressourcen wurden zunehmend zur Finanzierung eines durch Klientelismus geprägten politischen Apparats, von wahllos an eigennützig handelnde und unter dem Schutz der jeweiligen Regierungen stehende Unternehmen vergebenen Subventionen und für die Aufrechterhaltung eines aufgeblasenen und ineffizienten staatlichen Verwaltungsapparats und staatlicher Unternehmen verwendet. Schließlich brach das Modell der importsubstituierenden Industrialisierung Mitte der 70er Jahre im Rahmen einer beispiellosen politischen und institutionellen Krise endgültig zusammen.

Die Achterbahn: drei Jahrzehnte Ungewissheit, Schwankungen und wirtschaftlicher und sozialer Zerfall

Der Tod Peróns ein Jahr nach seiner Rückkehr an die Macht 1973 riss das Land in einen Strudel aus politischer Gewalt und hoher Inflation, und ebnete den Weg für den Militärputsch von 1976. In den drauf folgenden 25 Jahren wurde Argentinien zum Versuchsfeld für zwei marktfreundliche Reformversuche. Der erste Versuch fand während der Militärdiktatur statt, die 1976 begann. Erklärtes Ziel war die Durchsetzung einer »kapitalistischen Revolution von oben« über die Ausmerzung des wirtschaftlichen »Etatismus«, der »Disziplinierung« der Arbeiter (sic) und der Wiedereingliederung des Landes in die Weltmärkte. Dazu war jedoch, auch im wörtlichen Sinne, die Beseitigung jeglicher politischen Opposition erforderlich.

In der Praxis schwächten interne Konflikte die Militärregierung bald und verhinderten die Durchsetzung einer kohärenten Wirtschaftspolitik. Das Ergebnis war ein anhaltendes Haushaltsdefizit, Misserfolg bei der Stabilisierung der Wirtschaft und eine weiterhin hohe Inflation. Um alles noch schlimmer zu machen, führte die gleichzeitige Einführung einer breiten Handels- und Finanzmarktliberalisierung zu einer außergewöhnlich hohen privaten aber vor allem öffentlichen Auslandsverschuldung sowie zu einer dramatischen Verstärkung der Verwundbarkeit der bereits stark angeschlagenen Wirtschaft.

Der Misserfolg zwang die Militärregierung 1983 mitten in einer schweren Wirtschaftskrise und nach der schmählichen Niederlage im Falklandkrieg, die Macht abzugeben.

Der Übergang zur Demokratie wurde unter der Regierung von Raúl Alfonsín aus der Unión Cívica Radical angeführt. Von der »Schuldenkrise« in Schach gehalten, vermochte er es nicht, die hohe Inflation, die das erste Hindernis zur Normalisierung der Wirtschaft war, zu kontrollieren. Trotz einer Atempause zwischen 1985 und 1987 verschlimmerte sich die Lage erneut und 1989 brach mitten in einer tiefen Rezession die Hyperinflation aus.

Trotzdem konnten die für dasselbe Jahr anberaumten Präsidentschaftswahlen normal durchgeführt werden. Es kam zum ersten demokratischen Regierungswechsel seit vielen Jahrzehnten, auch wenn der neue Präsident sein Amt einige Monate früher antreten musste. Während der zwei Amtsperioden von Präsident Carlos Menem zwischen 1989 und 1999 fand die zweite Runde der marktfreundlichen Reformen statt, diesmal viel gewagter und umfassender als die erste. Zusammen mit neuen Impulsen zur Liberalisierung des Handels und der Finanzmärkte wurde ein Konvertibilitätsschema eingeführt, mit dem die Währungsparität zum Dollar per Gesetz festgelegt wurde. Zudem wurden eine massive Privatisierung der öffentlichen Unternehmen und eine Rentenreform mit einem gemischten System aus öffentlicher und privater Vorsorge vorangetrieben.Die Konvertibilitätsplan genannte Strategie fand schnell in- und ausländische Zustimmung, unterstützt von einem drastischen Rückgang der Inflation und einem sich daraus ergebenden schnellen Wirtschaftsaufschwung. Die erfolgreiche Anfangsphase dieses zweiten Reformversuchs dauerte bis Mitte 1998. Argentinien galt damals als einer der erfolgreichsten Fälle »marktfreundlicher« Reformen, die in einer Demokratie durchgeführt worden waren. Dennoch waren bereits Zeichen einer wachsenden finanziellen Verwundbarkeit infolge möglicher Richtungsänderungen in den Kapitalbewegungen erkennbar. Zudem stieg die Arbeitslosigkeit trotz des schnellen Wachstums stark an. Die Einkommensverteilung verschlechterte sich allmählich.

1998 endete der Wirtschaftsaufschwung und es begann eine lange Abschwungsphase, begleitet von einer deflatorischen Tendenz, die in eine wahrhaftige Depression und schließlich in die schwerwiegende Finanzkrise und den Zusammenbruch der Währung 2001 mündete. Im Laufe der 90er Jahre hatten die Kapitalbewegungen aufgrund der Wechselkursparität direkte Auswirkungen auf die Wirtschaftstätigkeit. Wegen der hohen Volatilität der Kapitalflüsse wirkte sich dies negativ auf die Stabilität aus. Die Umkehr der Kapitalzuflüsse, zuerst durch die Tequila-Krise und später durch die Krisen in Südostasien und Russland, verursachte eine tiefe Rezession. Mitte 2001 endete die Aufschwungsphase der 90er Jahre, fiel die Konvertibilität und das Land wurde von den ausländischen Finanzmärkten ausgeschlossen. Das zweite Experiment der neoliberalen Strukturreform war damit definitiv gescheitert.

Ende 1999 gewann eine heterogene Koalition die Präsidentschaftswahlen und verdrängte den Menemismus von der Macht. Die neue Regierung unter Fernando de la Rúa hatte sich vorgenommen, die Konvertibilität zu bewahren. Das Festhalten an einer nominal festgelegten Währungsparität bedeutete, dass eine Anpassung des realen Wechselkurses ein langsamer und schmerzhafter Prozess sein würde, aber die Regierung schloss jede Änderung aus, weil sie den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit und die Auswirkungen einer plötzlichen Abwertung auf die Vermögen fürchtete. Gleichzeitig stießen die sukzessiven Maßnahmen zur Steigerung des Primärüberschusses auf harte Ablehnung der betroffenen Sektoren, die systematisch alle Möglichkeiten zur Strukturanpassung blockierten.

In dieser Blockadesituation verschärfte sich die wirtschaftliche Lage drastisch, was die Zahlungsfähigkeit der Schuldner, sowohl der privaten wie der öffentlichen (Nation und Provinzen), zunehmend verschlechterte. Schließlich standen einige regionale Banken vor Liquiditätsengpässen und Problemen mit insolventen Kunden, was nun auch das Vertrauen der Anleger in die Stabilität des gesamten Systems beeinträchtigte. Mitte 2001 erlebten die Banken einen massiven Abzug von Kundeneinlagen, die Verteilungskonflikte eskalierten und die Regierung war unfähig, die Zügel in der Hand zu behalten. Ende Dezember desselben Jahres sah sich De la Rúa gezwungen, zurückzutreten. Kurze Zeit später gerieten die öffentlichen Schulden in Verzug und die Konvertibilität gehörte der Vergangenheit an. Dieses dramatische Scheitern kann auf zwei folgenschwere Fehler der Reformen der 90er Jahre zurückgeführt werden. Einer hat mit der Beziehung zwischen der gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung und der externen Liberalisierung zu tun. Die Regierung Menem legte als nominalen Anker ihrer Politik zur Inflationsbekämpfung die Wechselkursparität des Pesos mit dem Dollar gesetzlich fest. Gleichzeitig setzte sie das Land einer dramatischen Handels- und Finanzliberalisierung aus. Die Kombination der Liberalisierung mit der nachhinkenden Wechselkursparität veränderte die Preisrelationen dramatisch und führte zu tiefgreifenden Veränderungen im produktiven Sektor. Die argentinische Wirtschaft wurde dadurch nicht nur weniger konkurrenzfähig, sie war zudem viel stärker der Volatilität der internationalen Finanzmärkte ausgesetzt.

Das zweite Element, das zum Scheitern der Reformen Menems beitrug, lag im öffentlichen Sektor. Im Grunde wurde die Konvertibilität eingeführt, um die Regierung zur Bereinigung des hartnäckig defizitären Staatshaushalts zu zwingen, indem sie ihr die Finanzierungsmöglichkeit durch die Inflationssteuer nahm. Die tieferen, das Funktionieren des öffentlichen Sektors bestimmenden Faktoren, blieben jedoch nahezu unverändert. Die in weiten Teilen der politischen Klasse Argentiniens verbreiteten populistischen Praktiken verschwanden mit diesen Reformen nicht. Als nun die Regierung nicht mehr auf die alte Finanzierungsquelle zurückgreifen konnte, suchte sie, anstatt das Defizit zu bereinigen, nach einer neuen Quelle für deren Finanzierung: Da die Exekutive kein Geld emittieren durfte, finanzierte sie ihr weitgehend unverändertes Ausgabeverhalten nun über Schulden. Schließlich gibt es neben den internen Widersprüchen des Reformpakets ein drittes Element zu berücksichtigen. Es hat mit einigen in Argentinien traditionell gegenwärtigen Faktoren zu tun und spiegelt die Vorliebe der wichtigsten sozioökonomischen Akteure und der Bürger im allgemeinen wider, Konfliktlösungen außerhalb der bestehenden Institutionen zu suchen.

Dies erlaubte in den 90er Jahren der Regierung Menem, viel mehr Macht in der Figur des Präsidenten zu konzentrieren und so den »vertikalistischen« Charakter des Reformprozesses zu festigen. Der dadurch weiter genährte Teufelskreis der Schwächung der Institutionen wurde zudem durch die gemeinsamen Interessen von staatlichen und privaten Akteuren unterstützt. Die staatlichen Akteure gewährten zur Absicherung ihrer uneingeschränkten Macht bestimmten privaten Unternehmen (insbesondere den an der Privatisierung beteiligten) und den ihnen hörigen Provinzregierungen besondere Vorzüge. Dies stieß im privaten Sektor bei den Gewinnern auf stillschweigende Zustimmung, unter Verzicht auf eine Stärkung der Mitbestimmungsinstitutionen. Sie zogen direkte Verhandlungen mit zuständigen Beamten vor, oft an der Grenze zur Legalität. Die Verlierer verfielen ihrerseits in Apathie und zogen sich zurück, was die Erosion der Institutionen durch die politische Praxis noch verstärkte.

Argentinien nach 200 Jahren Unabhängigkeit: Wieder eine verlorene Chance?

Nach der tiefen Krise und dem Zusammenbruch der Konvertibilität erlebte die Wirtschaft Argentiniens eine kräftige Erholung. In den sechs Jahren nach dem wirtschaftlichen Tiefpunkt im ersten Quartal von 2002 bis Anfangs 20082 stieg das BIP im Jahresdurchschnitt um 8,2% und verzeichnete eine kumulierte Steigerung von rund 60%. Dadurch lag das BIP pro Kopf (in konstanten Pesos gemessen) fast 15% über dem Höchstwert des vergangenen Jahrzehnts. Das schnelle Wachstum führte zu einer starken Erholung der Beschäftigung, deren hohe Elastizität spiegelte auch die starken Veränderungen der relativen Faktorpreise aufgrund des Overshootings des Wechselkurses nach dem Verlassen der festen Parität wider. Durch die starke Beschäftigungsdynamik sank die Arbeitslosenrate erstmals seit Oktober 1993 unter die 10-%-Grenze. Diese Veränderungen spiegelten sich auch in einer bedeutenden Verbesserung der Armuts- und Verteilungsindikatoren wider, die sich in den vergangenen zehn Jahren stark verschlechtert hatten, insbesondere seit dem Debakel der Konvertibilitätskrise. Trotzdem waren die sozialen Indikatoren auch in den besten Momenten der wirtschaftlichen Erholung in der Mitte des laufenden Jahrzehnts immer noch besorgniserregend. Die Armut, an der 2002 über die Hälfte der Bevölkerung litt, lag noch immer über 24%. Die extreme Armut fiel von 30% auf knapp unter 10% (diese Werte lagen früher stets unter 3%) und die Einkommensverteilung zeigte nur eine sehr geringe Verbesserung. Die Erholung selbst und verschiedene wirtschaftspolitische Entscheidungen der neuen Regierung stellten das Haushalts- und im Außenhandelsgleichgewicht wieder her, was nicht nur wegen der Größenordnung sondern auch im Hinblick auf die Aussicht auf Bestand neu war.

Rekordwachstum der wirtschaftlichen Aktivität, Gleichgewicht im Außenhandel und die Selbstverpflichtung auf Haushaltsdisziplin schienen die entscheidenden Merkmale der neuen Etappe zu sein. All dies fand trotz der starken nominellen Abwertung vor dem Hintergrund einer niedrigen Inflation, einer beschleunigten Neumonetisierung und einer beginnenden Erholung des internen Kredits statt3. Hinzu kam, dass die Wirtschaft trotz der dramatischen Ereignisse für den Außenhandel offen blieb und einen Öffnungskoeffizienten aufwies, der an den neuen Preisrelationen gemessen die Werte der 90er Jahre um weit mehr als das Doppelte übertraf. Und das alles gerade zu einem Augenblick, in dem die Weltwirtschaft das Jahrfünft mit dem stärksten Wachstum seit den 70er Jahren antrat.

Natürlich hatten die äußerst günstigen konjunkturellen Faktoren einen Einfluss auf diese Entwicklung. Die Wirtschaft wies 2002 ein hohes Maß an stillgelegten Kapazitäten und Ressourcen auf (sowohl Kapital als auch Arbeitskräfte). Mit dem neuen Wechselkurs und den steigenden internationalen Commodity-Preisen genossen die Unternehmen bald eine sehr hohe Rentabilität.

Der Wachstumsimpuls stammte jedoch nicht ausschließlich aus der Nutzung der brachliegenden Ressourcen. Die inländische Bruttoinvestitionsrate – die mitten in der Krise auf rund 10% des BIP zurückfiel und damit zu niedrig war, um die Amortisation des bestehenden Kapitalstocks zu gewährleisten – erlebte eine schnelle und ziemlich umfassende Erholung: Sie stieg in konstanten Preisen sogar über die Höchstwerte der 90er Jahre. In einem Umfeld mit praktisch fehlendem Kredit erfolgte der Großteil der Finanzierung aus Eigenmitteln, die durch die außerordentliche Verbesserung der Unternehmensrenditen erwirtschaftet wurden.

Somit erschienen die Aussichten der argentinischen Wirtschaft so gut wie seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr. Obwohl die Überwindung der Ungleichgewichte teilweise zyklischen Faktoren zugeschrieben werden konnte, zeichnete sich im Außenhandel sowie beim Staatshaushalt tatsächlich wie nie zuvor die Aussicht auf Nachhaltigkeit ab. Zudem hatten die politisch Verantwortlichen nach einer anfänglich äußerst geringen Glaubwürdigkeit einen zunehmend guten Ruf, und die Wirtschaftspolitik genoss wieder einen großen Handlungsspielraum zur Konsolidierung dieser Erholung.

Schon nach kurzer Zeit jedoch änderten sich die Dinge wieder. Obwohl sich die Weltwirtschaft noch bis weit ins Jahr 2008 hinein im Aufschwung befand – zumindest die aufstrebenden Volkswirtschaften wie Argentinien – wurden in der makroökonomischen Entwicklung Argentiniens bedeutende Missstände sichtbar. Diese Missstände spiegelten einmal mehr die immerwährende Unfähigkeit des politischen und institutionellen Systems wider, mit günstigen Gelegenheiten richtig umzugehen und zwischenzeitlich die erforderlichen Vereinbarungen für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik zu erzielen. Viel mehr als der Entwurf eines kohärenten Wirtschaftsprogramms »auf dem Papier« ist diese »subjektive« Schwierigkeit vielleicht die wichtigste Hürde für die Überwindung dieser langanhaltenden Rückwärtsentwicklung und die Überleitung zu einer nachhaltigen Entwicklung. Es ist ganz klar, dass die Überwindung dieser Restriktion weit über das rein »Wirtschaftliche« hinausgeht. Ganz im Gegenteil betrifft diese Aufgabe direkt die Funktionsweise des politischen Systems, d. h. den Bereich der »Politischen Ökonomie«, bei dem langsam und unter Schwierigkeiten über die Anreize, Regeln und Institutionen entschieden wird, die das Zusammenwirken der verschiedenen Sektoren und Interessengruppen einer Gesellschaft bestimmen.

Auf die ersten Jahre der Erholung nach der Krise von 2001 folgte eine anhaltende Etappe der Demontage des neuen makroökonomischen Systems. Mit fortschreitender Normalisierung der Makroökonomie wurden auch die politischen Zwänge zunehmend komplexer. Es war genau zu diesem Zeitpunkt, als im Entscheidungsfindungsprozess das Fehlen von Qualität sichtbar wurde. Als Folge wurden systematisch Regeln und Institutionen umgangen, was die kurzfristige Wirtschaftsdynamik allmählich aber auf Dauer schwächte.

Es ist zwar schwierig, den genauen Zeitpunkt dieses Übergangs von einer zur anderen Etappe festzulegen; dennoch ist ziemlich offensichtlich, dass der Abschluss der Umschuldungsverhandlungen in mehr als einem Sinn den Übergang kennzeichnete. Die erfolgreiche Umstrukturierung der Schulden führte zu einer Normalisierung der Finanzbeziehungen zum Ausland und beendete eine Periode internationaler finanzieller »Isolation«. Dadurch entstand wieder die Tendenz zur Arbitrage zwischen heimischen und ausländischen Finanzaktiva. Durch die Wiederauferstehung des sogenannten »Trilemmas« – das besagt, dass es in einer offenen Volkswirtschaft unmöglich ist, gleichzeitig Wechselkurs und Zinsniveau zu kontrollieren –4 waren die verfügbaren Optionen der politisch Verantwortlichen eher eingeschränkt. Die Möglichkeit, gleichzeitig in der Geld- und in der Wechselkurspolitik autonom zu sein, wurde dadurch begrenzt. Mit der Entscheidung, Kontrollen (zunächst direkte, dann indirekte über Rücklagen) in den kurzfristigen Kapitalflüssen einzuführen, wurde in der Praxis versucht, die Auswirkungen des »Trilemmas« zu mildern. Auf diese Weise strebte man eine gewisse Autonomie an, um die Entwicklung der nominalen Wirtschaftsvariablen mit einem monetären Anker »zu fixieren«. Gleichzeitig wollte man eine stabile Wechselkursparität aufrechterhalten, die klare relative Preise signalisierte, um die Ressourcenallokation zu beeinflussen.

Unabhängig von ihrer Komplexität sind diese Kontrollen jedoch weit davon entfernt, perfekt zu sein. Zudem stand die argentinische Wirtschaft durch die sehr günstigen Austauschverhältnisse einem bedeutenden Devisenangebot gegenüber, was sichtlich zu einer Aufwertungstendenz des Pesos führte.

Der Druck, den realen Wechselkurs zu senken, war ein weiteres Zeichen für das Ende einer Etappe und das Erscheinen neuer, komplexerer wirtschaftspolitischer Zwänge. Gegen 2005 zeigte sich dieser Druck in der Zunahme der Inflation, die sich auf monatlich rund 1% einpendelte.

Über den Druck hinaus, den die Neuordnung der Preisrelationen und punktuelle Preissteigerungen bei bestimmten Produkten auf die Inflation ausübten, wurde diese durch die starke Steigerung der aggregierten Ausgaben weiter angetrieben, eine Steigerung, die wahrscheinlich jenseits jeder vernünftigen Schätzung über das mögliche Wirtschaftswachstum lag. Andererseits erschwerte die schnell sinkende Arbeitslosenrate, dass der Arbeitsmarkt weiterhin als Anker für das Preisniveau diente und es bestand die Möglichkeit, dass die Inflation auf anderen Märkten sich über die Lohnverhandlungen weiter auszubreiten beginne.

Diesem Inflationsrisiko musste konsequent begegnet werden. Es war entscheidend, dass die Regierung versuchte, ihre größeren Handlungsspielräume auszunutzen, um ein Maßnahmenpaket durchzusetzen, das die unterschiedlichen politischen Ziele miteinander in Einklang bringe. Der Versuch, das Gefüge der relativen Preise »um jeden Preis« aufrechtzuerhalten, brachte verschiedene Märkte zunehmend aus dem Gleichgewicht. Es wurde nicht nur die Inflation angeheizt, sondern es wurden über verschiedene Kanäle auch die Konsistenz der Politik insgesamt und in der Konsequenz das nachhaltige Wachstum beeinträchtigt.

Dies ist unter dem Strich die Geschichte der makroökonomischen Entwicklung der letzten Jahre: Die Geschichte wachsender Inkonsistenz in den politischen Entscheidungen und daher die Geschichte eines verlorenen Kurses mit einer systematischen Demontage des makroökonomischen Systems, das sich, hart erabeitet, nach der Konvertibilitätskrise zu etablieren begann. Auf der finanzpolitischen Ebene verlieh der anhaltende Rückgang des Primärüberschusses in den Jahren mit starkem Wirtschaftswachstum der kurzfristigen wirtschaftlichen Dynamik einen bedeutenden expansiven Impuls. Die Geldpolitik war ihrerseits äußerst zurückhaltend und vermochte schließlich nicht, den systematischen Anstieg der Inflationsrate aufzuhalten. Heute liegt diese über 25% im Jahr und führt zu einem Rückstand des realen Wechselkurses.

Blick in die Zukunft: Kann Argentinien seine Entwicklungsrichtung wiederfinden?

Im Unterschied zu den zahlreichen vergangenen kritischen Momenten sind die heutigen Schwierigkeiten weniger auf außenwirtschaftliche Probleme zurückzuführen als auf ein internes »Verteilungsproblem«. Es ist nicht so, dass die Wirtschaft aus dem Außenhandel nicht genügend Devisen erwirtschaften würde, um dem Schuldendienst nachzukommen. Es ist der Staat, auf den der größte Teil der Passiva entfällt und dem die notwendigen Haushalsüberschüsse fehlen, um sich dieser externen Ressourcen auf legitime Weise bedienen zu können.

Das unbegreifliche Auftauchen von typischen Problemen wie der Inflation zu einem Zeitpunkt mit äußerst günstigen externen Bedingungen ist das traurige Erbe fehlerhafter Politik. Es ist das erste makroökonomische Problem, das gelöst werden muss, um den verlorenen Kurs wiederzufinden. Diese Episode zeigt klar, dass die makroökonomische Entwicklung immer das Ergebnis der Wechselwirkung zwischen objektiven Faktoren und politischen Entscheidungen (subjektiven Faktoren) ist. Es zeigt zudem, dass selbst gute Fundamentaldaten nicht als immun erachtet werden können, wenn die von der Regierung ausgehenden Signale nicht kohärent genug sind, um die Erwartungen der Öffentlichkeit zu steuern. Gleichzeitig erinnert die Situation an einige Lektionen, die wir im Laufe der Geschichte unserer Wirtschaft gelernt haben: Nicht immer waren ungünstige äußere Umstände an unseren makroökonomischen Missständen schuld. Oft können die Probleme einer mangelhaften Wirtschaftspolitik zugeschrieben werden, die nicht fähig war, über längere Zeiträume haltbare politische Maßnahmen zu beschließen.

Preisstabilität ist zwar eine notwendige Voraussetzung, reicht jedoch für ein nachhaltiges Wachstum und eine gerechte Entwicklung nicht aus. Es bedarf auch einer langfristigen Strategie, die alle unsere Ressourcen mobilisiert, um auf der Basis der Komplementarität Argentiniens mit den neuen aufstrebenden Ländern die Chancen der globalisierten Wirtschaft zu nutzen.

Diese Strategie muss sich zum Ziel setzen, die Wirtschaft von den ständigen Schwankungen zwischen Perioden mit außenwirtschaftlichem Gleichgewicht auf Kosten eines »niedrigen« Lebensstandards und Perioden mit »angemessenem« Lebensstandard zu befreien, die zu einer Unterbrechung des Wachstums führen, weil sie externe Ungleichgewichte hervorrufen.

Um nachhaltiges Wachstum, externes Gleichgewicht und eine günstige Entwicklung des Lebensstandards der gesamten Gesellschaft zu kombinieren, gibt es keinen anderen Weg, als die nachhaltige Steigerung der systemischen Produktivität zum Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft zu machen.

Laut der neoklassischen Theorie kann ein schnelles Wachstum der Produktivität nur dann stattfinden, wenn das Land sich angesichts seiner Faktorausstattung in den Sektoren spezialisiert, in denen es »statische« komparative Vorteile aufweist. Die Nutzung dieser Vorteile muss sicherlich der Ausgangspunkt sein. In Argentinien bedeutet dies, Anreize für die landwirtschaftliche Produktion in der Pampa zu setzen, statt sie zu entmutigen, und auch andere auf der Nutzung der natürlichen Ressourcen in den Regionen basierende Aktivitäten zu fördern (nicht nur für die Herstellung von Gütern, sondern auch für Dienstleistungen, wie z. B. den Tourismus). Die Bedingungen für die Ausweitung vieler dieser Aktivitäten sind durch das erwartete schnelle Wachstum Chinas, Indiens und anderer großer aufstrebender Volkswirtschaften besonders günstig.

Erfolgreiche Entwicklungserfahrungen zeigen jedoch, dass der Innovationsprozess und der technologische Fortschritt für eine Steigerung der Produktivität und des Wirtschaftswachstums genauso oder noch wichtiger sind als die statischen Vorteile. Dieser Prozess würde natürlich die alten, geerbten Muster schrittweise verändern und dabei »neue« komparative Vorteile schaffen.

Es wäre jedoch falsch, davon auszugehen, dass Innovation und technologischer Fortschritt in Volkswirtschaften, die sich auf die Nutzung natürlicher Ressourcen konzentrieren, nicht möglich seien. Die Geschichte von Ländern wie Australien, Neuseeland oder Kanada widerlegen dies ganz klar. Die gegenwärtige durch das Zusammenfließen der Informations-, Kommunikations-, Bio- und Nanotechnologie vorangetriebene Technologierevolution hat zudem eine beispiellose Transformation der Produktion in zahlreichen Aktivitäten des primären Sektors ausgelöst. Dies führt andererseits zu viel intensiveren und komplexeren Verkettungen mit verschiedenen produktiver Tätigkeiten und Dienstleistungen, die sie »flussabwärts« mit Versorgungs- und Kapitalgütern beliefern und »flussaufwärts« ihre Produkte nachfragen. Aus dieser Sicht werden in den Beziehungen zwischen Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungssektor nicht nur die sicherlich vorhandenen Interessenkonflikte aufgedeckt, sondern auch ihr Kooperationspotenzial im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung.

Neben einer makroökonomischen Politik, die eine nachhaltige Finanz- und Außenhandelsposition sowie eine niedrige Inflationsrate sicherstellt, die Wechselkursanpassungen nicht verzögert und langfristigen Investitionsentscheidungen eine voraussehbaren Rahmen bietet, braucht es eine moderne und proaktive »Industriepolitik« (im weit gefassten Sinn), die auf eine Steigerung der Produktivität abzielt. Ein solches integrales Programm (einschließlich Steueranreize, Beratung und Kredit, Ausbildung, Marktzugang, u. a.) würde die unternehmerische Entwicklung und die Bildung neuer Unternehmen in den verschiedenen Regionen des Landes unterstützen. Darüber hinaus müsste es Innovationen in all ihren Formen, Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie die Zusammenarbeit der Industrie mit den Universitäten aggressiv fördern und dabei vermeiden, die produktivsten Sektoren durch permanentes Subventionieren obsoleter Unternehmen und Wirtschaftszweige zu ersticken.

In einer Welt, in der Information und Wissen zu zentralen Elementen der Wirtschaft geworden sind, ist ein weiterer ausschlaggebender Faktor für eine nachhaltige Produktivitätssteigerung die Investition in das Humankapital, oder mit anderen Worten, die Ausbildung von zunehmend besser qualifizierten Arbeitskräften. Das verlangt nicht weniger als eine Bildungsrevolution, die die Qualität der Bildung verbessert und das Profil der Studienabgänger, auf Mittelschul- und Universitätsebene, mit den Anforderungen des Entwicklungsprozesses in Einklang bringt.

Ein solches politisches Maßnahmenpaket erfordert institutionelle und professionelle Fähigkeiten, die der argentinische Staat heute eindeutig nicht hat, zumindest nicht in ausreichendem Umfang. Eine Reform der öffentlichen Verwaltung, die diese Fähigkeiten schrittweise wiederherstellt, ist daher eine unverzichtbare Komponente dieser Strategie.

Um diesen Gedanken weiterzuführen: Es reicht nicht, kompetente Fachleute zu rufen, eine klare Diagnose zu formulieren und die angemessenen politischen Maßnahmen auszuarbeiten. Es ist auch unverzichtbar, konstruktiv eine gemeinsame Vision für die Zukunft des Landes aufzubauen, die den Entscheidungshorizont der sozialen Akteure erweitert, ohne die Vielseitigkeit der Präferenzen und sozialen Interessen zu ignorieren. Diese Vision muss ein Mindestmaß an Klarheit über die Hauptziele der Strategie widerspiegeln:

- Festigung der repräsentativen Institutionen und Stärkung ihrer Glaubwürdigkeit,- Förderung eines virtuosen Zusammenspiels zwischen öffentlichen und privaten Ebenen, das maximalen Raum für private Initiativen zulässt und gleichzeitig die staatlichen Kapazitäten stärkt, um die Märkte zu regulieren und auf effiziente Weise dasjenige zu tun, was diese nicht alleine bewerkstelligen können,- Gewährleistung eines nachhaltigen Wachstums basierend auf der produktiven Nutzung des gesamten Territoriums, die volle Ausnutzung unserer Natur- sowie Arbeitskraftressourcen und die Schaffung von Anreizen zur Innovation und zur unternehmerischen Entwicklung,- Beseitigung der extremen Armut, Verminderung der Armut und schrittweise Verbesserung der Einkommens- und Reichtumsverteilung. All dies in einer konfliktreichen, wankelmütigen und im Niedergang befindlichen Gesellschaft wie der argentinischen zu erreichen, ist zwar sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Diese und keine andere ist die anstehende Aufgabe der Politik.

  • 1. Der Netto-Einwanderungssaldo wuchs in den 1880er-Jahren und erreichte 1888 220.000 Personen (was knapp 7% der Gesamtbevölkerung in diesem Jahr entsprach). Im finanziellen Bereich betrug der Zuwachs der nationalen öffentlichen Schulden im erwähnten Jahrzehnt nahezu das Doppelte des Exportvolumens von 1889.
  • 2. Als Endpunkt für den Vergleich wird 2008 genommen, weil nach diesem Zeitpunkt die offiziellen Statistiken zu den nationalen Zahlen nicht mehr vertrauenswürdig sind: Einerseits führte die Manipulation des Konsumentenpreisindexes zu einer groben Überschätzung der produzierten Mengen und andererseits kann aus verschiedenen Informationsquellen entnommen werden, dass ab irgendeinem Zeitpunkt im Jahr 2008 die Behörden mit der direkten Manipulation der Kennziffern zur wirtschaftlichen Entwicklung begonnen haben.
  • 3. Trotz der Nichteinhaltung von Verträgen und des praktischen Bankrotts des Bankensystems im Zusammenhang mit dem Fall der Konvertibilität.
  • 4. Anm. d. Übers.
Este artículo es copia fiel del publicado en la revista
ISSN: 0251-3552
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