Die Mittelschicht in der Geschichte Argentiniens
Nueva Sociedad Januar 2010
Zusammenfassung | Argentinien galt stets als ein Land mit einer starken Mittelschicht. Dieser Beitrag verfolgt die Ursprünge der argentinischen Mittelschicht und begründet die Ansicht, dass sie sich in Wirklichkeit erst in den 40er Jahren in Opposition zum Protagonismus der armen Bevölkerungsschichten in der Frühzeit des Peronismus endgültig konsolidierte. Im Lauf der Geschichte wurde ihre Identität als Mittelschicht immer wieder beschworen, wenn es darum ging, die sozialen Bewegungen einzudämmen und die Radikalisierung der Armen zu verhindern. Es gab jedoch auch Momente der Annäherung beider Schichten. Hier wird die Auffassung vertreten, dass diese Beziehung wesentlich war, um den mächtigeren Klassen entgegenzutreten.
Die Entstehung der argentinischen Mittelschicht
Die Führungselite, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts den argentinischen Staat schuf, strebte eine Integration des Landes als Rohstofflieferant in die internationalen Märkte an. Die Umsetzung dieses Vorhabens führte zu einer schnellen kapitalistischen Entwicklung: Der Markt griff zunehmend tiefer in das tägliche Leben der Menschen ein, während gleichzeitig ein Staat entstand, der mächtig genug war, um die sozialen Beziehungen zu formen und zu regeln. Die neuen Wirtschaftszweige und Staatsfunktionen vervielfachten die Arbeitsmöglichkeiten. Händler, Selbstständige, Landwirte, Angestellte, Aufseher, Freiberufler, Techniker und Lehrer erlangten ein viel größeres Gewicht als sie bis dahin hatten und machten die soziale Struktur komplexer.
Gleichzeitig zerstörte die wirtschaftliche und politische Entwicklung bis dahin bestehende selbstständige Tätigkeiten und Beschäftigungen. Der Anteil derer, die in Lohnverhältnissen für andere arbeiten mussten, nahm in einem nie zuvor gekannten Maß zu; die soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklung veränderte die Beziehungen zwischen den Einwohnern beträchtlich. Die Bestrebungen der Elite, ihr Vorhaben als »Zivilisationsprojekt« zu präsentieren, untermauerte die seit den Kolonialzeiten herrschende Sozial- und Rassendiskriminierung. Personen dunkler Hautfarbe und die als Criollos bezeichneten Nachfahren der ersten spanischen Einwanderer mit ihren »uneuropäischen« Gewohnheiten wurden gering geschätzt und ihnen wurde vorgeworfen, durch ihre »Barbarei« ein Hindernis für den Fortschritt zu sein. Dadurch konnten vor allem die Weißen (darunter viele europäische Einwanderer) aus den »zivilisierteren« Regionen des Landes, insbesondere der Pampa, die vom Kapitalismus gebotenen Chancen nutzen.
Die Veränderungen erfolgten schnell und die traditionelle Kultur vermochte es nicht, die neuen Hierarchien zu »ordnen«. Es war nicht mehr klar, wer zum »respektablen« Teil der Gesellschaft gehörte und wer nicht. Die Schule, die Intellektuellen, die Werbung und auch die herrschende Kultur bemühten sich, neue »anständige« Verhaltensnormen durchzusetzen oder die alten zu verstärken. Um sich von den »niedrigeren« Gesellschaftsschichten abzuheben und seinen erreichten oder angestrebten sozialen Status anzuzeigen, wurden neben dem Beruf und erworbenen Bildungsstand »städtische« Manieren, ein »gutes Erscheinungsbild«, ein angemessener Wohnort sowie ein »standesgemäßes« Verhalten der Frauen in der Familie mit einer entsprechenden Ausstattung an Kleidern und Accessoires unumgänglich.
In dieser unordentlichen städtischen Welt Argentiniens zum Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts war es für Viele fundamental, deutlich zu machen, dass sie Respekt verdienten. In diesem fruchtbaren Boden einer komplexen und sich verändernden Gesellschaft schlug ab den 20er Jahren langsam die Identität der »Mittelschicht« Wurzeln. Vielen ermöglichte die Vorstellung, der »Mittelschicht« anzugehören, für sich den ersehnten Respekt zu fordern: Auch wenn man nicht Teil der Elite war, so ließ man doch keinen Zweifel daran, dass man nicht zum Pöbel oder zur Unterschicht gehörte.
Die politische Ausnutzung der Mittelschicht
Die neue Identität der Mittelschicht entstand weder zufällig noch spontan. Der Ausdruck »Mittelschicht« wurde erstmals ab 1920 mit klaren politischen Zielen von einigen Intellektuellen verwendet.
Im Januar 1920 löste Joaquín V. González durch eine Rede im Senat eine heftige Polemik aus. Er forderte seine Kollegen auf, sich um die »Mittelschicht« zu kümmern, »die breiteste Schicht der Republik, die weder Streiks auslöst, noch ihren Willen durchsetzen kann«. In seiner Rede stellte González dieser nützlichen »Mittelschicht« eine zum größten Teil aus »unerwünschten Ausländern« zusammengesetzte Arbeiterschicht gegenüber, die ihre »Unzufriedenheit« und ihre »extremen Theorien«1 nach Argentinien mitgebracht habe. González war einer der einflussreichsten Politiker und wahrscheinlich einer der geistreichsten Intellektuellen der Elite, die das Land vor der demokratischen Öffnung führte. Seit den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts bekleidete er verschiedene Posten. Er war Gouverneur, Parlamentsabgeordneter, Senator und mehrfach Minister. González verband seine öffentliche Tätigkeit mit einer intensiven politischen Reflexion. Sein Werk ist geprägt von seiner Sorge über das Problem der Revolutionen und der »ungebändigten Leidenschaften der Massen«. Der Mittelschicht begann er jedoch erst 1919 gegen Ende seines Lebens Beachtung zu schenken. Er war besorgt über das Erstarken der Arbeiterbewegung und die Sympathien, die die Russische Revolution in Argentinien genoss. Es war auch 1919, als ein Arbeiteraufstand in Buenos Aires während der später so genannten Semana Trágica (die tragische Woche) das Land erschütterte, bis er mit mehreren hundert Todesopfern gewaltsam niedergeschlagen wurde. Es folgte eine bis dahin nie gesehene Welle von Streiks von Angestellten »in weißen Kragen« (Bank- und Büroangestellte usw.) und sogar Studenten, die in der »anständigen« Gesellschaft tiefe Besorgnis auslöste. González verfolgte aufmerksam die aus Europa eintreffenden Nachrichten und griff eine schon von seinen europäischen Kollegen mit gewissem Erfolg umgesetzte Idee für Argentinien auf. Er wollte einen Stolz der »Mittelschicht« entfachen, um die Forderungen der einen und der anderen zu trennen. Es gelang ihm, einen Teil des Volkes und insbesondere die Angestellten davon zu überzeugen, dass sie einer anderen, »respektableren« Schicht als der der Arbeiter angehörten und sie sich auf der Straße nicht mit diesen mischen sollten.In der Rede von González wurde wahrscheinlich zum ersten Mal öffentlich von einer Mittelschicht gesprochen. Bisher war dieser Begriff noch wenig bekannt. In der argentinischen Gesellschaft herrschte das Bild einer binären Sozialstruktur vor. Es gab einerseits die Menschen der »gehobenen« Schicht und andererseits den Pöbel. Dass es irgendeine mittlere Klasse zwischen diesen beiden Gruppen gab, wurde damals nicht anerkannt. Ein großer Teil der Büroangestellten, Lehrer, Telefonistinnen und Kleinbauern, die in jenem Jahr an den Streiks teilnahmen, fühlte sich als Teil des arbeitenden Volkes. Es gab damals keine Identität der Mittelschicht.
Tatsächlich nahm die Arbeiterpresse González’ Rede mit einer Mischung aus Ablehnung und Befremdung auf. Es entbrannte die wahrscheinlich erste öffentliche Diskussion über die argentinische Mittelschicht. Die sozialistische Zeitung La Vanguardia beschuldigte den »alten Oligarchen«, sich lediglich aus »Wahlkampfgründen« um die Leiden der »Mittelschicht« zu sorgen. Zudem bestritt sie »die falschen Unterscheidungen gewisser Soziologen« wie González, die versuchten, die »in einer perfekten Solidarität lebenden und ein gemeinsames Schicksal teilenden« Arbeiter und Angestellten gegeneinander aufzubringen2. Die Anarchisten von La Protesta gingen mit ihrer Verurteilung der Soziologie des Senators noch weiter. Für sie gab es tatsächlich nur zwei soziale Klassen: »die von ihm verteidigte Klasse existiert nicht, und wenn sie existieren würde, hätte sie keine Daseinsberechtigung«3, da es sich um eine unproduktive Gruppe von Schmarotzern handeln würde.
Für die damaligen Anarchisten und Sozialisten war das von González angestrebte politisch-kulturelle Manöver ganz klar. González wollte die in Argentinien herrschende Sicht der Gesellschaft, d. h. die Art, wie sich die Argentinier selbst sahen, verändern. Er wollte die zunehmende Solidarität zwischen Arbeitern und Angestellten brechen, indem er Letztere davon überzeugte, dass sie nicht zum Arbeitervolk gehörten sondern Teil einer »respektabeleren« Mittelschicht seien. Er versuchte das Bild einer Zweiklassengesellschaft zu verändern, da dieses Bild gleichsam die von den Anarchisten und Sozialisten propagierten Theorien bestätigte: Dass die Nation zweigeteilt war und die untere Schicht nicht mehr länger von der oberen Schicht unterdrückt werden dürfe. González wollte also einen Keil zwischen die beiden treiben. Er suchte in den Segmenten, die wir heute Mittelschicht nennen, nach politischen Verbündeten gegen den Vormarsch der Arbeiter und der Gegner des Kapitalismus.
Andere rechte Politiker und Intellektuelle unterstützten den politisch-kulturellen Schachzug von González. Der wahrscheinlich bekannteste und beharrlichste war Manuel Carlés, der Gründer der ersten ultrarechten parapolizeilichen Gruppe Argentiniens, der Liga Patriótica Argentina. Carlés versuchte die mittleren Segmente zu organisieren und rief Anfangs der 20er Jahre die »Mittelschicht« mehrmals öffentlich dazu auf, aktiv zu werden.
Die »Operation Mittelschicht« war jedoch nur bedingt erfolgreich. Trotz der Anstrengungen der Politiker und Intellektuellen konnte sich keine wirkliche Mittelschicht-Identität entwickeln. Die Idee, dass eine sich vom einfachen Volk abhebende Mittelschicht existiere, konnte sich nicht in breiten Bevölkerungskreisen durchsetzen. Während der 20er und 30er Jahren begannen andere Politiker – liberale, konservative, katholische, nationalistische und einige aus der Unión Cívica Radical – sich öffentlich auf die »Mittelschicht« zu beziehen und sich mit ähnlichen Absichten für sie zu interessieren. Von da an begann sich unter gewöhnlichen Leuten langsam eine Identität als Mittelschicht abzuzeichnen, und das bisher nur von den Intellektuellen verwendete Konzept nahm Gestalt an.
Die Mittelschicht und der Peronismus
Die Identität der Mittelschicht verbreitete sich erst Jahre später mit dem Erscheinen der peronistischen Bewegung in weiten Bevölkerungskreisen. Die ab 1945 stärkere Präsenz der niedrigsten Klasse der argentinischen Gesellschaft und ihr Protagonismus lösten sowohl innerhalb der Oberschicht als auch bei denen, die wir heute zu den mittleren Schichten zählen, Ablehnung aus. Es waren nicht so sehr die bald erfolgten Lohnerhöhungen, an denen sich verschiedene Kreise störten, sondern die Tatsache, dass die traditionellen sozialen Hierarchien tiefgreifend umgewälzt wurden. Den Arbeitgebern in Industrie, Handel und Landwirtschaft missfielen die mangelnde Disziplin der Arbeiter und die ständigen Einmischungen ihrer Delegierten und der Gewerkschaften in alle Belange.
Nicht nur die Hierarchien in der Arbeitswelt veränderten sich; der Peronismus erschütterte auch mehrere jener Säulen, auf denen die Stellung der Einzelnen in der Gesellschaft ruhte. Plötzlich waren alle, die bisher in der herrschenden Kultur unsichtbar, stumm und unterdrückt gewesen waren, allgegenwärtig, und sie erdreisteten sich sogar, in die Politik einzugreifen. Die armen Männer und Frauen aus den Randzonen des noblen Buenos Aires strömten in die Stadt: Am 17. Oktober 1945 marschierten die Arbeiter durch das Zentrum und forderten die Rückkehr Peróns, der damals noch amtierender Arbeitsminister war, aber von der Militärregierung – der er selber angehörte – in Haft gehalten wurde. Dies war der erste große Meilenstein des Peronismus. An diesem Tag hatten die Arbeiter diese weiße Festung der »guten Erscheinung« erobert, von der sie bis dahin auf tausendfache Weise ausgeschlossen waren. Über alle Regeln des herrschenden Anstands hinweg drangen sie mit ihrer ärmlichen Kleidung und ihrem grobschlächtigen Verhalten in die Stadt, bevölkerten die Plätze mit ihren verschwitzten, entblößten Oberkörpern und erfrischten ihre Füße im Wasser der Brunnen. Und weil sie an diesem Tag gesiegt hatten, fragten sie von da an nie mehr um Erlaubnis. Allein die Tatsache, dass sie als arme und verachtete Volksmasse die Plaza de Mayo und andere Gebiete der Innenstadt besetzt hatten, war für sie eine politische Geste , ein Ritual, das sie in den folgenden Jahren immer wieder zelebrierten.
Genaus so herausfordernd verhielt sich das einfache Volk gegenüber jeder einzelnen seit Jahren von der herrschenden Kultur eingetrichterten Norm zu Respekt und »Anstand«, und jedes Infragestellen wurde als politische Geste verstanden. Über Jahre hinweg wurden den Armen Sauberkeit und eine korrekte Kleiderordnung gepredigt, und plötzlich war es ein positiver Wert, ein Descamisado (ein Hemdloser, wie Eva Perón ihre Anhänger nannte) und ein Grasa (vulgär) zu sein.
Jahrelang pflegte man ein Ideal von kultiviertem und »gebildetem« Verhalten und nun hatte sich der Kongress plötzlich mit ungebildeten »Dummköpfen« gefüllt. Auch die Ideale Anstand und Familienhierarchie wurden in einem gewissen Maß von der Masse hinterfragt. Die jungen Peronisten erfüllten die Bewegung mit diesem ungestümen, respektlosen und ordinären Geist, der seither so typisch für sie ist. Die peronistischen Frauen sangen schamlos: »Sin corpiño y sin calzón / Somos todas de Perón« (Ohne Büstenhalter und ohne Höschen / Wir stehen alle zu Perón). Evita, ein uneheliches Kind, wurde Präsidentengattin. Das einfache Volk politisierte mit seinen Gesten auch die Frage der ethnischen Abstammung und der Hautfarbe und forderte damit den Mythos eines weißen und europäischen Argentiniens heraus. Da waren sie auf einmal, zeigten ihre dunkle Haut oder trauten sich sogar, in Buenos Aires Quechua oder Guarani zu sprechen, wie die Tageszeitung Clarín erstaunt berichtete. Oder sie kamen in einer noch nie dagewesenen Karawane von Kollas, einem Stamm aus dem Nordosten, und erhofften sich mit diesem Malón de la Paz genannten Marsch die Hilfe Peróns bei der Rückgabe ihres enteigneten Landes. Das einfache Volk hatte schließlich in der hohen Politik Einzug gehalten, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten.
Es war die Missbilligung dieser Politik Peróns aber vor allem der neue Protagonismus dieser von den »anständigen« Leuten in Anspielung auf ihre Hautfarbe »cabecitas negras« (schwarze Köpfchen) genannten Gruppe, die ein breites Segment der Gesellschaft verband und schließlich zu einer Identität der »Mittelschicht« führte. Tatsächlich gab es erst in den 40er Jahren Anzeichen dafür, dass eine große soziale Gruppe sich selbst als Mittelschicht verstand. Noch nie vorher gab es eine derart breite Koalition und eine Übereinstimmung in den Forderungen der verschiedenen Sektoren, die seither als Mittelschicht bezeichnet werden. Nur der Horror vor Peróns Politik und der sozialen Disziplinlosigkeit hatte sie verbinden können. Diese Identität kam so für immer von den Bedingungen ihrer Geburt geprägt zur Welt.
Seit ihrem Ursprung war die Mittelschicht antiperonistisch. Ein großer Teil ihrer Identität beruhte auf dem Mythos des weißen und europäischen Argentiniens, dem Argentinien der eingewanderten Großeltern, im Gegensatz zur Welt der Criollos und Mestizen der Unterschicht. Auf unerwartete Weise, ebenso unerwartet wie das Erscheinen des Peronismus, erfüllte die Identität der Mittelschicht schließlich die von Joaquín V. González viele Jahre zuvor erträumte Aufgabe: zwei Sektoren der Gesellschaft zu spalten und gegeneinander aufzubringen und einen davon zu überzeugen, dass sein Platz und sein politisches Interesse dem der herrschenden Klasse näher stand als den Arbeitern.
Die 60er-Jahre in der Demokratie
Der durch das Entstehen der Mittelschichtsidentität geförderte soziale Bruch beeinflusste von da an die nationale Politik auf mannigfaltige Weise. Die gewaltige soziale Unterstützung, die die Revolución Libertadora beim Sturz von Perón 1955 begleitete (auch noch als sie 1956 zahlreiche Personen erschießen ließ), war ohne die Unterstützung durch diesen Teil der Gesellschaft undenkbar.
Das Ansehen der Mittelschicht und ihr Platz in der Nation wurden von da an stark hinterfragt. In den 60er Jahren wirkte sich zunehmend der von den Peronisten sowie von verschiedenen marxistischen Gruppierungen herbeigeführte Linksrutsch auf alle Bereiche des nationalen Zusammenlebens und auch auf die Identitäten aus. Die aus diesem Linksrutsch gestärkt hervorgehenden Ideen rückten den Arbeiter wieder ins Zentrum der argentinischen Entwicklung und der angestrebten sozialistischen Nation. Obwohl diese linke Bewegung großenteils aus Aktivisten der mittleren Gesellschaftsschichten bestand, wurde die Mittelschicht wegen ihres fehlenden Verständnisses für die nationalen Probleme, ihrer Geringschätzung der Ärmsten und neben anderen Anschuldigungen auch wegen ihrer ideologischen Affinität mit den Mächtigen angegriffen.
Dies bedeutete natürlich nicht, dass die Identität der Mittelschicht verschwand. Trotz der Angriffe blieb sie stark verwurzelt. Tatsächlich kamen ihre politischen Auswirkungen wieder zum Vorschein, als breite Bevölkerungskreise den Proceso de Reorganización Nacional (Prozess der Nationalen Reorganisation) unterstützten, mit dem die Diktatur 1976 der dritten peronistischen Regierung ein Ende setzte. Der Proceso kostete nicht nur Zehntausenden von Aktivisten das Leben und zerstörte ihre Organisationen; mit ihrer Wirtschaftspolitik schwächte die Diktatur auch den sozialen Einfluss der Arbeiter. Die Unterdrückung und die Stigmatisierung aller auf sozialen Wandel zielenden Ideen und Projekte ebneten den Weg für den endgültigen Triumph der »Mittelschicht« als zweifelsfreie Verkörperung der argentinischen Identität.
Der Proceso verdrängte nicht nur die Volksorganisationen aus dem Zentrum des nationalen Geschehens, sondern auch das »Volk« als zentrales Subjekt der nationalen Geschichte. Dessen Ersatz durch die Mittelschicht offenbarte sich in den Ergebnissen der Wahlen von 1983. Diese wurden von der Diktatur, die ihre zentralen Ziele erfüllt sah, für ihren Rückzug angesetzt. Dabei verlor der Peronismus, bis dahin der politische Ausdruck des einfachen Volkes, ohne Wahlbetrug oder Verbote erstmalig landesweit die Mehrheit. Die Wahl Raúl Alfonsíns von der UCR zum Präsidenten wurde als Triumph der Mittelschicht betrachtet. Der »Alfonsinismus« untermauerte noch den Stolz der »Mittelschicht«, die für sich die Rolle eines Garanten der wiedererlangten Demokratie beanspruchte.
Neoliberalismus und Krise
Die von den mächtigsten Wirtschaftssektoren vorangetriebene drastische Gesellschaftsreform war damals jedoch bereits im Gang. Der Neoliberalismus leitete in vielen Aspekten des Lebens, von der Wirtschaft bis hin zur Kultur, einen dramatischen Wandel ein. Die staatliche Regulierung der Wirtschaft wurden aufgehoben und den Arbeitern wurden viele der in jahrzehntelangen Kämpfen errungenen sozialen Rechte und Garantien abgesprochen. Ab 1975 und noch deutlicher nach dem Regierungsantritt von Carlos Menem 1989 konzentrierte sich der Reichtum zunehmend in der Hand einiger weniger Reicher, während die Bevölkerung verarmte. Die Identität der Mittelschicht leistete in den ersten Jahren diesem Prozess eine großen Dienst. Zur Einführung der neoliberalen Maßnahmen war das Zerschlagen der breiten sozialen Solidarität erforderlich, die sich in den 70er Jahren herausgebildet hatte. Der Stolz der Mittelschicht mit seiner traditionellen Abneigung gegen das einfache Volk konnte zum Spalten und zur Konfrontation der sozialen Schichten ausgenutzt werden. Und genau das taten einige der Propagandisten des neuen Modells.
Der Sieg der neoliberalen Politik provozierte jedoch einen tiefen Bruch im Denken und im Zusammenhalt der mittleren Gesellschaftsschichten. Aus den 90er-Jahren gingen Gewinner und Verlierer hervor. Während einerseits ein Teil der Mittelschicht die Veränderungen freudig begrüßte (sei es, weil sie davon profitierten oder weil sie an eine Verbesserung ihrer Lage glaubten), verarmte andererseits eine zunehmend breite Bevölkerungsschicht. Im Versuch, der menemistischen Politik zu widerstehen und sich gegen sie zu stellen, nahmen Teile der Mittelschicht die solidarischen Beziehungen mit der untersten Schicht wieder auf (obwohl natürlich auch viele ihre Abneigung beibehielten).
In diesen Jahren veränderte sich die Identität der Mittelschicht und wurde sogar geschwächt, denn viele sahen sich zunehmend als Teil einer neuen »verarmten Mittelschicht« oder sie akzeptieren es sogar, Teil der »neuen Armen« zu sein, die die Unterschicht vergrößerten. Als 2001 das Wirtschaftsmodell der Konvertibilität zusammenbrach, waren die Auswirkungen der Krise derart verheerend, dass die mittleren und ärmsten Schichten sich noch stärker miteinander solidarisierten und zusammenrückten. Sehr zögerlich zwar konnte man sogar für eine Weile eine beginnende »Auflösung der Klassen« beobachten.
Selbstverständlich verschwanden die Unterschiede zwischen den Klassen nicht. An einigen der Trennmauern zwischen den Schichten nagte jedoch der Zerfall. Der nach dem Krisenausbruch vom Kongress zum Übergangspräsidenten gewählte Eduardo Duhalde versuchte die Krise zu beenden, die Legitimität des Staates wiederherzustellen und den argentinischen Kapitalismus wieder in seine Bahnen zu lenken. Es war kein Zufall, dass er als einer der ersten die Mittelschicht öffentlich und ausdrücklich umwarb. Auf diese Weise versuchte er eine in die Krise geratene Identität zu stärken und zu verhindern, dass die Trennungslinien zur Unterschicht noch weiter verwischt wurden. Auch für seinen Nachfolger Néstor Kirchner war die Wiederherstellung des Stolzes der Mittelschicht und die Rückführung der Nation zu einem so genannten »normalen Land« ein zentraler Punkt.
Mittelschicht und danach...
Im Lauf der argentinischen Geschichte wurde mehrmals versucht, die Identität der Mittelschicht zum Zweck der »Bekämpfung Aufständischer« zu stärken. Das Ziel war die Spaltung und Schwächung von starken sozialen Bewegungen, die die untersten Schichten mit den ein wenig besser gestellten Schichten vereinen wollten. Dies war natürlich für die Interessen der Mächtigen und/oder der Staatsgewalt eine Bedrohung. Bei mindestens drei Ereignissen – beim Sturz von Perón 1955, bei der Zustimmung zum neoliberalen Modell der 90er-Jahre und nach der Krise von 2001 – fiel der Mittelschicht eine Schlüsselrolle zu. In diesen drei Fällen diente sie der Spaltung und Konfrontation der sozialen Schichten und schuf eine den Projekten der Elite gegenüber wohlgesonnene öffentliche Meinung, während sie mögliche Widerstände dagegen schwächte.Nicht zufällig werden die Identitäten, die uns geprägt haben, im aktuellen politischen Umfeld Argentiniens zunehmend kritisch betrachtet. Das gilt insbesondere für die Mythen des »weißen, europäischen Landes der Mittelschicht« und des »normalen Landes«, in denen die armen Volksschichten stets als Hindernis für den Fortschritt betrachtet werden, das irgendwie aus dem Weg geräumt werden müsse. Eine solche Kritik kann nur gesund sein.
Es gibt jedoch eine heute lähmend wirkende Sicht von der politischen Rolle der Mittelschicht. Die Progressiven oder Linken neigen zu Klischees über diese soziale Schicht, die dem von liberalen und rechten Politikern und Intellektuellen verbreiteten Denken entspricht, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Wir sind in gewisser Hinsicht zuweilen zu schnell bereit, wie es Ex-Vizepräsident Carlos Chacho Alvarez einmal formulierte, »das Büchlein von Jauretche hervor zu holen«. Der nationale und volksnahe Intellektuelle Arturo Jauretche kritisierte in den 50er und 60er Jahren die ablehnende Haltung der Mittelschicht gegen den Peronismus. Viele progressive Sektoren beschuldigen die Mittelschicht immer wieder, die nationalen Probleme nie zu verstehen, eifrig die Gebräuche des Bürgertums nachzuahmen, zwischen der Oberschicht und der Unterschicht hin und her zu pendeln aber stets die Oberschicht zu unterstützen, den Blick immer nach Europa gerichtet zu haben, die Armen zu verachten, rassistisch zu sein, zu diskriminieren und so weiter. Diese Klischees stammen aus den Jahren der Revolución Libertadora und des peronistischen Widerstands. Von Jauretche und den großen Essayisten der 50er und 60er Jahre, wie Juan José Sebreli, Jorge Abelardo Ramos, Jorge Enea Spilimbergo und anderen aufgegriffen, fanden sie Einzug ins Volksempfinden und sie schränken unser Verständnis von der politischen Rolle der Mittelschicht noch immer stark ein.
Auch wenn diese Klischees zweifelsfrei viel Wahrheit enthalten, verschleiern sie die in vielen Momenten der nationalen Geschichte erfolgten Annäherungen und starken Bande der Solidarität zwischen der Arbeiterschicht und weiten Teilen der Mittelschicht. Diese Bande bestanden 1919, in den 30er Jahren und natürlich bei der Radikalisierung der Mittelschicht, insbesondere der Jugend, in den 60er und 70er Jahren. In der jüngsten Geschichte waren sie für die bemerkenswerte Solidarität während der Krise 2001 und im, wie es Maristella Svampa ausdrückte, »außergewöhnlichen Jahr« darauf kennzeichnend. Die Mittelschicht ist nicht zwingend und unvermeidlich ein soziales Konglomerat mit den Eigenschaften, die ihr von den Essayisten in den 50er und 60er Jahren zugesprochen worden sind. Jauretche ist zwar durchaus anregend, aber sein Büchlein in der Hand zu haben behindert heute eher das freie Denken. Die derzeitige politische Herausforderung ist die vorurteils- und klischeefreie Rückkehr zu den solidarischen Banden zwischen allen nicht zur herrschenden Klasse gehörenden Schichten. Ohne Stärkung dieser Bande ist jede mehr oder weniger tief greifende Veränderung und jede Politik undenkbar, die fähig wäre, den kriminellen Vormarsch des Kapitals auf unser Leben einzuschränken.
- 1. Cámara de Senadores de la Nación: Diario de sesiones [Transkripte der Senatssitzungen], 1919, ii, S. 90-92.
- 2. »Delirio reaccionario« in La Vanguardia, 30.1.1920, S. 1.
- 3. »Las tres clases sociales« in La Protesta, 31.1.1920, S. 1.